8. Salon: Warum soll ich schreiben und lesen lernen?

Ziele des Salons:

  • Selbstreflexion: Als Erstklässler können die Kinder im zweiten Schulhalbjahr schon mehr oder weniger schreiben und lesen. Was bedeutet ihnen die erworbene Fähigkeit?
  • Horizonterweiterung: Wie funktioniert Kommunikation mit und ohne Schrift und Sprache?
  • Das praktische Angebot, ein Bild mit Buchstaben zu kleben und zu malen, regt die Kinder dazu an, Buchstaben auch grafisch wahrzunehmen.

Verlauf des Salons:

Ich spreche in Bildern

Schon auf dem Schulhof kommen zwei Kinder auf uns zu und wollen beim Umgestalten der Bibliothek helfen. Unser kleiner Philosoph ist dafür aber viel zu müde und lümmelt sich gleich aufs Sofa. Das Mädchen hingegen ist sichtlich überreizt, spricht ohrenbetäubend laut und dehnt alle Silben jaulend in die Länge. Beide sind ferienreif, das ist schnell klar. Wir bemühen uns besonders ruhig und aufmerksam mit ihnen zu reden und gestalten den Raum. Nach und nach entspannen sich beide Kinder. Der Junge kuschelt sich hinters Sofa und döst, das Mädchen beginnt zu malen.

Unser Begrüßungsritual „Wir sind ein starkes Team!“ fällt heute ruhiger aus als sonst. Auch die anderen Kinder wirken erschöpft. Eigentlich dachten wir heute an eine Erweiterung der Begrüßungsformeln, merken aber, dass alle zufrieden sind mit den bekannten Gestaltungsfreiräumen. Der muslimische Gruß „Salem aleikum“, das chinesische „Ni hao“ und das französische „Salut“ sind heute beliebt. Beim „Dobar dan“ der „durstigen Dragana“ stellt ein Mädchen fest, dass alle Wörter mit „D“ anfangen. Die Kinder stimmen ihr staunend zu.

In der Mitte des Kissenkreises liegen heute verschiedene Zeitschriften, Bücher und ausgeschnittene Buchstaben. Das Thema erraten die Kinder recht schnell. Interessant sind Details, die den Kindern auffallen: „H & M ist eine Marke“, bemerkt ein Mädchen. Unser Junge sieht nur die Fische auf zwei Büchern: „Wir wollen über Fische reden!“, mutmaßt er. Ein Kind hatte vor dem Salon mit den Eltern in unser Programm geschaut und sagt: „Nein, wir reden über Schreiben und Lesen und wofür man das braucht“, korrigiert sie. Das Mädchen neben ihr schließt gleich an: „Na wenn ich nicht auf das Paket schreibe, wohin es soll, wie soll der Postbote das dann finden?“ Ein anderes Kind denkt noch weiter: „Wenn man in der Welt zurecht kommen will, muss man lesen und schreiben können.“ Keiner widerspricht. Wir fragen, ob man denn auch ohne Worte und Schrift miteinander reden kann. Zwei Mädchen können Zeichensprache und gestikulieren: „Ich gehe nach Hause.“ und „Ich liebe Dich.“ „Ja, Zeichensprache geht auch“, ruft ein Kind.

'B' wie Bikini und wie Ball

Wir zeigen auf die einzelnen Buchstaben am Boden und fragen, ob man mit Buchstaben auch Bilder gestalten kann. Ein Mädchen greift gleich zum „B“ und dreht es in die Waagerechte: „Eine Bikiniunterhose!“, freut sie sich. Ein anderes nimmt ein zweites „B“ und ergänzt: „Aber auch ein Bikinioberteil!“ Nun wollen alle an die Mal- und Basteltische.  Hier ist die Erschöpfung bei fast allen Kindern verflogen. Buchstaben werden ausgeschnitten und zu Namen, Begriffen und Bildern gestaltet. Das Mädchen, das schon beim Aufbau dabei war, bleibt missmutig und setzt sich mit ihrem Phil, Sophie & Co-Buch an einen kleinen Extratisch. Dort malt sie mit einem orangefarbenen, extra weichen Gelstift ein Blatt beidseitig flächig aus und faltet daraus eine Herzform. Wir konnten schon öfter beobachten, dass diese Stifte beruhigend auf Kinder wirken, da sie übers Papier rutschen und es mit einer glitschig-leuchtenden Oberfläche überziehen. Mit der fertigen Form kehrt sie zu den anderen Kindern zurück und möchte nun auch kleben und malen.

Das 'O' wird mein Kopf, das 'B' mein Bikini

Unsere „8-Welt“-Zeichnerin (siehe 20. März 2012 und 20. November 2011) entscheidet sich für ein „D“, weil ihr Name mit diesem Buchstaben anfängt und ergänzt es zum Wort „DOSE“. Danach möchte sie sich lieber auf dem Sofa das von uns für sie mitgebrachte Buch mit Werken des Künstlers Antoni Tàpies anschauen. Zusammen mit unserem kleinen Philosophen sucht sie die Achten in den Bildern. Sie unterhalten sich darüber, was sie auf den doch stark abstrahierten Bildern erkennen. Beide scheint dieser Blick auf die Werke des Künstlers zu inspirieren. Sie kehren an den Mal- und Basteltisch zurück und beginnen zu malen. Unser Junge greift entschieden zu Aquarellfarbe und Pinsel und ist nicht mehr ansprechbar. In leuchtenden Farben und sich aneinanderschmiegenden Formen entsteht ein Frühlingstraum (unsere unausgesprochene Interpretation!). Nein, er braucht heute keine Worte, um sich zu verständigen, auch keine Buchstaben! Unsere Tàpies-Bewunderin schlägt die Seiten in Ihrem Phil, Sophie & Co-Buch auf, wo sie am letzten Dienstag bereits das Porträt des Künstlers und eines seiner Bilder eingeklebt hat. Nun malt sie ihre eigene „8“ in die freigehaltene Lücke. Sie zeigt uns stolz ihre Komposition, packt ihr Buch in die Tasche und möchte in den Hort gebracht werden. Ihr Tagwerk ist vollbracht, das sehen wir auch so.

Bei der Verabschiedung geben wir ihr und später den anderen Kindern einen kleinen Zettel, auf dem die Frage „WAS IST DIE SEELE?“ in hellen Blau- und Lilatönen steht. Dies sei das Thema in unserem nächsten Salon. Wer möchte, könnte ja Jemandem den Zettel zeigen und sich die Antwort merken. Alle stecken die Zettel in Ihre Tagebuch-Taschen. Ein Mädchen stürmt gleich auf eine Horterzieherin zu und zeigt ihr den Zettel. Sie lehnt sich zurück und denkt nach: „Die Seele ….“

Was ist die Seele?

Resümee:

Der heutige Salon zeigte einmal mehr, dass eine gezielte Förderung von Kindern mit zum Teil hohem Unterstützungsbedarf kaum von nur einer Bezugsperson zu leisten ist. Da wir als Team arbeiten, ist es sehr gut möglich, Angebote genau auf bestimmte Kinder zuzuschneiden. Insbesondere Kinder mit Motivationsblockaden, Entscheidungsschwächen oder anderen Schwierigkeiten profitieren von dieser Arbeitsteilung. Der philosophische Freiraum wird zum hierarchiefreien Ort für jedes Kind. Integration braucht es hier nicht, da niemand ausgeschlossen wird. „Wenn mir etwas wichtig ist, das ich gemalt habe und ich nicht sagen kann warum, dann ist das Kunst.“ Das haben unsere Kinder verstanden. Wer würde da wiedersprechen? Buchstaben werden zu Bikinis, Farben zur Oase und Achten zum Inbegriff der idealen Welt (das chinesische Zeichen für Acht „八“ heißt Glück!). Statt Kinder mit erhöhtem Unterstützungsbedarf so zu fördern, dass sie sich selbst als defizitär erleben, empfängt sie der philosophische Salon so, wie sie sind und begibt sich mit ihnen gemeinsam auf die Suche nach dem ihnen gemäßen Weg zum ‚staunenden Erobern der Welt‘. Und was ist Bildung anderes, als die Welt staunend zu erobern?