Meeresrauschen und isländische Elfenklänge. Eine Ohrenreise ans Meer

Im letzten Salon vor Weihnachten wollen wir die Aufmerksamkeit der Kinder von der äußeren, sichtbaren Welt zu den eigenen, inneren Bildern und Erinnerungen lenken. In der Mitte des Kissenkreises und um eine blaue Kerze herum liegen heute große und kleine Muscheln, eine Koralle, Bilder mit Wellenformationen, eine Postkarte mit dem träumenden, „jungen Philosophen“ des Malers Carsten Weitzmann und drei Kärtchen mit in Druckbuchstaben und in Tusche geschriebenen Wörtern: „TAUCHEN“, „WELLEN“, „TRÄUMEN“.

Die ersten Kinder, die kommen hocken sich sofort vor die Muscheln. Die großen halten sie sich an Ohr: „Oh, die rauschen!“ „Da ist was drin!“, ruft ein Junge und bohrt mit dem Finger in die Muschel. Alle Muscheln werden vergleichend ans Ohr gehalten. Die Kinder sind begeistert. Zwei Mädchen schauen die Bilder am Boden an. „Was ist wohl heute unser Thema?“ fragen wir. „Wellen“, „Wasser“, „Meer“, kommen die Antworten. Das Bild mit dem schlafenden Jungen, vor dem ein kleiner Mann mit Hut entlang spaziert; irritiert ein Mädchen: „Und das, was ist das, der schläft ja?“, fragt sie. Wir: „Ja, der schläft und träumt. Träumen wollen wir heute auch. Wir wollen die Augen schließen und mit den Ohren eine Reise ans Meer machen.“

Als alle da sind, sucht sich jeder ein gemütliches Plätzchen am Boden oder auf dem Sofa. Wir fragen, wer denn schon einmal am Meer war. Alle heben die Finger und wollen erzählen. An der Ostsee waren sie, am Mittelmeer, im Sommer und im Winter. „Wir hatten nur Regen“, klagt ein Kind. Ein Mädchen erzählt von ihrem Erlebnis unter Wasser: „Im Meer bin ich ohne Taucherbrille untergetaucht und die Augen haben ganz doll gebrannt und ich konnte nichts mehr sehen. Da kam mein Papa, der hatte eine Brille und hat mich gefunden.“ Wir fragen, ob sie Angst gehabt hätte. „Nein, mein Papa hat mich ja gefunden.“ Wir sprechen über den Sand am Strand, das salzige Wasser und über große und kleine Wellen.

Nun starten wir unsere „Ohrenreise ans Meer“. Zunächst machen wir das Wellengeräusch selber mit dem Mund. Alle machen mit, einige bewegen rhythmisch die Arme dazu. Wir erzählen, dass das Meer schon da war, als es die Menschen noch gar nicht gab. „Immer und immer, schlagen die Wellen ans Ufer. Wenn wir jetzt die Augen schließen, können wir das Meer hören und vielleicht träumen wir auch etwas.“  Ein Junge, der heute zum ersten Mal dabei ist, ist etwas aufgeregt. Er bleibt sitzen und beobachtet die anderen Kinder.

Wellengeräusche erfüllen den Raum, dann folgen isländischen Wasserelfengesänge (Björk „Vísur Vatnsenda Rósu“, 2006). Als die Musik endet, hört man Gähnen und gemütliches Räkeln. Ein Mädchen raunt entspannt: „Noch mal!“ „Nein“, kontert der neue Junge und wird von einem Mädchen unterstützt. Wir: „Und, ward ihr am Meer?“ Einige antworten mit „Ja“, ein Mädchen: „Nein, im Meer, im Meer!“ Ein anderes Mädchen: „Ich war in einer Musikwelt und die Noten waren bunt.“ Ihre Nachbarin: „Ich war in einer Muschel, ich hab da reingeschaut.“ „Ich war eine Meerjungfrau und kann zaubern“, sagt das Mädchen daneben. Als wir auf das Lied von Björk zurückkommen und von dem in Island verbreiteten Glauben an Feen und Elfen erzählen, sind einige Mädchen ebenfalls von ihrer Existenz überzeugt. „Natürlich gibt es Feen und auch Nixen und Meerjungfrauen“, sagt ein Mädchen, das heute zu Gast bei uns ist. „Wir wollen jetzt malen“, kommt die bekannte Forderung.

Die Kinder suchen sich einen Platz an den Tischen, eines wählt die große hellblaue Pappe am Boden. Die Malmaterialien sind heute von Blau-Grün und Violett dominiert, die passend getönten Malpappen sind längsformatig. Alle Kinder wählen Tusche, manche schneiden aus Transparentpapier Fische aus. Kleinteilige Meerjungfrauen gestalten sie mit Filzstiften. Zwei Kinder malen ihr Bild gemeinsam. Mit Neugierde werden die Schwämmchen, die neuen kurzen und dicken Pinsel und eine nach Marzipan duftende, streichbare Klebepaste ausprobiert. Jedes Kind weiß sofort, was es malen will – bis auf unseren neuen Jungen, der sichtlich gehemmt ist und sein Blatt anstarrt. Wir fragen, was er denn malen möchte? „Ich kann kein Meer malen“, klagt er. „Ich male immer den Jedi von Star Wars, wenn ich malen soll.“ Wir ermuntern ihn die Schwämme oder die gewellte Pappe, mit der man Wellen drucken kann, auszuprobieren, aber er lehnt ab und malt seinen Ritter. Einige Minuten später fragen wir: „Vielleicht ist dein Jedi ja am Meer?“ Er stimmt zu, bittet aber um Hilfe beim Auftragen der Farbe auf die Pappe. Als der erste Abdruck fertig ist, macht er alleine weiter und wird ganz nervös, als seine Mutter ihn abholen möchte. „Ich kann nicht so schnell, ich will noch mehr Wasser malen“, sagt er. Die Mutter läßt ihm noch etwas Zeit, erinnert dann aber an den gemeinsamen Termin. Wir schlagen vor, dass er die Druckpappe und sein Bild mitnehmen und Zuhause weitermalen kann. Die Mutter stimmt zu. Wir betonen, dass wir uns freuen, wenn das Kind zum nächsten Salon wiederkommt.

Uns wird auch klar, wie selbständig und frei die anderen Kinder ihre Bilder gestalten und wie zufrieden sie dabei sind. Unsere Leitmaxime „Beim Philosophieren gibt es kein „Richtig“ und „Falsch“ ist für sie zur Selbstverständlichkeit geworden. Beim Malen reden sie über das Gefühl sich Wasser über den Kopf zu schütten, über die „schrumpelige Haut nach dem Baden“, über gefährliche Krokodile und darüber, warum Menschen nicht unter Wasser leben können, obwohl sie noch die Reste von Schwimmhäuten zwischen den Fingern haben. Ob das Meer irgendwo zu Ende ist, wird ausführlicher diskutiert.

Während sich drei Mädchen für Meerjungfrauen entscheiden, ist ein Kind ganz versunken dabei, blaues Papier mit dem cremigen, duftigen Kleber zu bestreichen und auf eine Pappe zu drücken. Am Boden entsteht ein großer Wellenschwung. Bei all dem Blau sticht das Bild eines Mädchens hervor: Mit kräftigen und farbsatten Pinselschwüngen trägt sie tiefes, erdiges Rot auf und lächelt genußvoll: „In dem Haus wohn‘ ich mit Mama und Papa am Meer, auf einer Insel in Deutschland“, schwärmt sie. Erst ist da auch wirklich noch ein wenig Blau in einer Bildecke, dann ist alles rot: „Das Haus hat das Meer verschluckt“, lacht sie.